(SELBST-)WERTLOSIGKEIT
Seit einigen Monaten darf ich Studenten bei einem Projekt begleiten. "Gegenstrategien zu Beschämung". Ich liebe diese Aufgabe, lerne dabei selbst so immens viel dazu, bewundere, wie sehr sie sich auf das Thema einlassen und in die Thematik einfühlen. Eigentlich könnte ich rundum glücklich und zufrieden sein. Denn genau darüber red ich doch seit über einem Jahr fast ununterbrochen. Sollte man meinen.
Doch dann sitze ich mit diesen wundervollen Menschen in einem Raum und habe Hemmungen, spontan meine Meinung zu äußern oder einen Denkanstoß zu geben. Oder einen Satz zu korrigieren, weil er vielleicht meiner Meinung nach zu schwierig, zu anspruchsvoll ist. Und überlege drölfzig Varianten durch, wie ich es formulieren könnte, nur um nicht als "unwissend" da zu stehen. Dabei geht es doch genau darum. Durch meine Erfahrung sagen zu können, was gut rüberkommt, was weniger, was verständlich ist und was nicht. Wann sich Betroffene angesprochen und wertgeschätzt fühlen könnten, wodurch ausgegrenzt und was Sätze, die für andere vollkommen unbedenklich scheinen, in ihnen auslösen könnten. Doch selbst da zögere ich. Plötzlich kommt dieses Gefühl wieder hoch, zu verstummen, leise zu werden und am liebsten die dunkelste Ecke in diesem Raum zu suchen. Und das, obwohl ich doch wirklich einiges an Erfahrung auf dem Gebiet der Beschämung gesammelt habe. Aber warum ist das so? Und warum ausgerechnet in diesem "Safe Space", denn hier sind nur Menschen, die Armut bekämpfen und gegen Beschämung angehen wollen. Wäre es eine Diskussion mit Menschen, die Armut als rein selbst verschuldet sehen, als Ergebnis von Faulheit, dann wäre es verständlich (obwohl es auch dann nicht sein sollte, ich könnte so viele Argumente dagegen bringen. Nur nicht spontan. Und schon gar nicht vor Beschämern. Noch nicht). Doch hier? Inmitten von Menschen, die mir Wertschätzung entgegenbringen?
Es ist schlicht das Ergebnis dieses jahrelangen Eintrichterns. Dieses "du kannst sowieso nicht mitreden, du hast es nicht geschafft, deiner Familie ein "normales" Leben zu ermöglichen, also hast du auch kein Recht, dich irgendwo aufzuspielen, als hättest du eine Ahnung davon"!
Dieses Gefühl der (Selbst-)Wertlosigkeit, das dir immer und immer wieder von so vielen Seiten vorgehalten wird, steckt zu tief. Selbst wenn die Zeit der Beschämung vorbei ist - es bleibt. Es hat sich eingenistet. Ganz tief drinnen. Und nur ganz langsam, mit viel Arbeit an dir selbst und mit viel Hilfe von aussen kannst du lernen, damit umzugehen. Ob diese (Selbst-)Wertlosigkeit jemals ganz verschwindet? Ich weiß es nicht. Ich wünsche es.
Und nun stellt euch vor, wie es all jenen Betroffenen geht, die (noch) keine Teilhabe erfahren dürfen, die tagtäglich Exklusion und Beschämung erleben. Die nicht darüber sprechen können. Weil, ja, weil "sie würden ja nichts leisten, also hätten sie auch nichts zu sagen".
Aus Scham zu verstummen geschieht täglich, rund um uns. Diese Scham abzubauen ist mein größtes Anliegen. Wir alle müssen noch viel mehr und viel offener darüber reden. Über Armut sowieso, aber auch über Ausgrenzung. Denn ohne zu verstehen, was soziale Ausgrenzung und Beschämung bedeuten/bewirken/auslösen, wird es keine nachhaltigen Strategien gegen Armut geben.
Auch wenns nicht immer leicht fällt. So wie mir dieser Text heute.