VON WERTEN UND IHREM PREIS

von Maria Hofbauer, (Twitter:  @maria_hofbauer)

Als meine Tochter eineinhalb Jahre alt war, erkrankte sie buchstäblich über Nacht schwer. Anfangs war nicht einmal sicher, dass sie überleben würde, zumal die Ursache unklar blieb. Ein paar Tage später war zwar ihr Überleben gesichert, aber es stand in den Sternen, ob ihr nicht dauerhafte schwere Schäden bleiben würden. Draußen der helle, freundliche Frühling, drinnen meine kleine Tochter, die um ihr Leben und ihre Gesundheit kämpfte - was für ein grotesker Widerspruch! Nach zwei Wochen schaute es danach aus, dass sie keine bleibenden Beeinträchtigungen erlitten hatte, und meine Dankbarkeit war grenzenlos. Spätestens damals habe ich begriffen, dass Menschen nicht mit wirtschaftlichen Maßstäben zu messen sind.

Nach meiner Karenzzeit gestaltete sich die Arbeitssuche für mich schwierig. Es mangelte an Betreuungsmöglichkeiten für meine Tochter, es mangelte generell an Arbeitsplätzen in jener ländlichen Region, in der ich lebte. Über ein funktionierendes Netzwerk verfügte ich nicht, zumal meine Eltern schon damals nicht mehr rüstig genug waren, um sich zumindest an vier Tagen in der Woche nachmittags um ein quirliges Kindergartenkind zu kümmern. Mein damaliger Partner arbeitete in Wechselschicht, was die Sache nicht einfacher machte. Öffentliche Verkehrsmittel waren spärlich, die Anschaffung eines Zweitwagens nicht rentabel. Eine unschöne Situation, in der mir eine Annonce einer Firma, die Mitarbeiter auf Werksvertragsbasis suchte, gerade recht kam. Das Einkommen war eher bescheiden, die Krankenversicherung bezahlte ich selber. Von Pensionsversicherung war nicht die Rede, aber dieses Thema schob ich zum damaligen Zeitpunkt in den hintersten Winkel meines Bewusstseins. Stattdessen genoss ich es, mir meine Arbeitszeit frei einteilen zu können, und dadurch die Möglichkeit zu haben, für meine kleine Familie da zu sein und vor allem meine Tochter beim Aufwachsen begleiten zu können. Diese Zeit mit meiner Tochter bereue ich menschlich bis heute nicht. Keine Sekunde davon.

Ein paar Jahre lebten wir auf diese Weise, dann machte ich mich mit sehr bescheidenen Mitteln als Buchhändlerin mit eigenem kleinem Geschäft selbstständig. Auch hier war das Einkommen nicht üppig, aber es war die glücklichste Zeit meines Berufslebens. Wieder ein paar Jahre später siedelte ein Geschäft, das in meiner Gasse ein starker Frequenzbringer gewesen war, auf die "grüne Wiese" vor der Stadt. Aussicht auf einen Nachmieter gab es lange nicht, und ich konnte dabei zusehen, wie meine Umsätze weniger wurden. Im kleinstädtischen Bereich grenzen solche Gegebenheiten an ein Todesurteil, und so war eines Tages der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mein Geschäft für immer schloss. Kein Konkurs, kein Ausgleich, sondern das stille Sterben eines beruflichen Lebenstraumes.

In der Zwischenzeit hatte ich meinen zweiten Ehemann kennengelernt. Er hatte über längere Zeit hinweg versucht, in "meinem" Bundesland eine Anstellung zu finden, aber das war mit seiner Qualifikation außerhalb der Landeshauptstadt so gut wie unmöglich. Sein Beruf erforderte seine Anwesenheit in Wien und auch im Ausland, sodass wir beschlossen, nach Wien zu übersiedeln. Der Lebensmittelpunkt meiner Eltern war und blieb ihre Heimatgemeinde. Mir war klar, dass es diesbezüglich sehr wahrscheinlich noch sehr kompliziert werden würde, und so fragte ich explizit, ob ihnen lieber wäre, würden wir in der Nähe wohnen bleiben. Nein nein, wir sollten ruhig nach Wien ziehen. Hilfe annehmen konnten meine Eltern immer schon nur schwer bis gar nicht, und um Hilfe bitten erst recht nicht, dessen war ich mir bewusst. Und so freute ich mich auf das neue Leben in Wien, aber beim Gedanken an meine Eltern wurde mir täglich mulmiger.

Schon nach wenigen Wochen in Wien bekam mein Ehemann ein Auslandsprojekt übertragen, das dafür sorgte, dass wir erst recht wieder nur eine Wochenendehe führten. Ich hatte mir ein richtiges Familienleben mit weitgehend geregelten Arbeitszeiten und einem passenden Job für mich vorgestellt, stattdessen wurde ich zusätzlich zur beruflichen Situation meines Ehemannes mit der Pubertät meiner Tochter und ernstzunehmenden gesundheitlichen Problemen meiner verwitweten Schwiegermutter konfrontiert. Dass ich auf meine Bewerbungen meist erst gar keine Antwort bekam, machte es auch nicht besser. Heute weiß ich, dass du als Wiedereinsteigerin, die noch dazu zuvor selbstständig war, für die meisten Arbeitgeber ungefähr so begeisternd bist wie eine Razzia der Finanzbehörde.

Die Pubertät blieb, der Gesundheitszustand meiner Schwiegermutter besserte sich wieder, meine Bewerbungen verhallten ungehört. Ein Fremdwährungskredit entwickelte sich ausgesprochen ungünstig. Mein Ehemann musste seinen Arbeitgeber wechseln, weil der bisherige seine Niederlassung in Österreich schloss. Ich erlebte ihn erstmals mit beruflichen Zukunftsängsten, obwohl auch in schlechteren Zeiten kaum eine Woche ohne den Anruf eines Headhunters verging, und was ich von meinen Eltern hörte, verhieß ebenfalls nichts Gutes. Das heißt, direkt hörte ich nichts, aber zwischen den Zeilen war klar, dass sich da allmählich ein Drama anbahnte.

Der Anruf, vor dem ich schon seit Monaten gezittert hatte, kam an einem Tag im August. Mein Vater sagte zu mir wortwörtlich: "Bitte hilf mir, ich kann nicht mehr!"

Ein paar Stunden später war ich schon bei meinen Eltern. Meine Mutter hatte nach einer deutlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes über Monate hinweg darauf bestanden, von meinem Vater betreut zu werden, weil sie keinen Fremden ins Haus lassen wollte. Meinen Vater, damals ebenfalls schon nicht mehr gesund, brachte das an seine körperlichen und mentalen Grenzen. Binnen weniger Tage organisierte ich die tägliche Krankenbetreuung sowie eine Hilfe für die Körperpflege. Hilfe im Haushalt war aufgrund der Weigerung meiner Eltern nicht machbar, sodass diesen Part ich selber übernahm. Zwei bis drei Tage pro Woche war ich im Durchschnitt bei meinen Eltern, und was ich von Wien aus organisieren konnte, erledigte ich daheim. Die folgenden Wochen und Monate brachten mich mehr als einmal an den Rand der völligen physischen und psychischen Erschöpfung. Die Möglichkeit einer kostenfreien Pensionsversicherung für pflegende Angehörige, die nicht im selben Haushalt leben, gab es meiner Erinnerung nach damals noch nicht, aber es kann auch sein, dass ich falsch informiert wurde. Jeder Tag war auf die eine oder andere Art ein Kampf ums Überleben, insofern recherchierte ich nicht weiter, was meine Versicherungsmöglichkeiten betraf.

Gegen Ende des Jahres starben meine Mutter und mein Vater im Abstand von drei Wochen.

Im Jahr darauf schmiss meine schwerst pubertätsgebeutelte Tochter von einem Tag auf den anderen trotz guten Noten die Schule. Was einem als Mutter, die ihre Tochter und deren Potential kennt, in solch einer Situation durch den Kopf geht, ist unbeschreiblich. Auch die Arbeitsplatzsituation meines Ehemannes war für ihn belastend, und eines Tages war da die Idee, aufs Land zu siedeln. Nicht weit entfernt von Wien, aber weg aus der Stadt. Ich sah meine restlichen beruflichen Chancen schwinden, aber wenn es Ehemann und Tochter dann vielleicht besser geht, warum nicht? Ein Teil meines Glücks ist auch, Menschen, die mir nahestehen, glücklich zu sehen, also warum nicht zurückstecken? Bei meiner Tochter begann die Pubertät allmählich zu enden, und mit dieser Entwicklung setzte auch ein Umdenken ein. Einer der schönsten Momente meines Lebens ist sicherlich jener, in dem sie mir sagte, sie wolle studieren. (Der Weg zum Studium war dann auch dornig, aber sie hat ihn aus eigener Kraft geschafft.).

Die Freude über meine Tochter wurde überschattet vom Gesundheitszustand meiner Schwiegermutter, der sich binnen weniger Monate sehr verschlechtert hatte. Körperlich war sie recht gut beisammen, aber geistig hatte sie schwerste Aussetzer. Ich unterstützte sie schon länger in allem, was es in einem Haushalt zu organisieren gibt, und besorgte in weiterer Folge auch tägliche medizinische Betreuung. Mit fortschreitender Verschlechterung ihres Zustandes beantragte ich mit ihrem Einverständnis eine offizielle Sachwalterschaft, welche aufgrund ihrer Alzheimerdiagnose auch rasch gewährt wurde. Zur gleichen Zeit driftete mein Ehemann in eine schwere persönliche Krise, die so extrem wurde, dass er zeitweise selbstmordgefährdet war. Man möge mir nachsehen, dass ich zu diesem Zeitpunkt und unter dieser extremen Belastung nicht an meine Pension dachte.

Meine Ehe und mit ihr meine damaligen Lebensumstände sind Vergangenheit. Das böse Erwachen kam vor ein paar Wochen, als ich aufgrund meiner anhaltenden gesundheitlichen Probleme auf ärztlichen Rat hin um eine Berufsunfähigkeitspension ansuchte. Mein Antrag wurde abgelehnt, weil mir die Jahre und Monate fehlen, in denen ich auf Werksvertragsbasis tätig war, meine Eltern betreut habe, meine Schwiegermutter betreut habe. Die Zeiten, in denen ich für meine unmittelbare Familie da war, sind, so seltsam es klingt, nur in meinem Herzen von Bedeutung. Aufgrund dieser fehlenden Beitragsmonate habe ich auch keine Möglichkeit, gegen den Bescheid Einspruch einzulegen.

Ich bin 55, mir wurden dauerhafte gesundheitliche Schäden attestiert, die in Summe eine höhergradige Behinderung ergeben. Meine Zukunft ist in beruflicher und materieller Hinsicht mehr als unsicher.


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